Chronologie eines Corona-Hundes

Am 15. März 2020 hätte ich dich im Alter von 4 Monaten bekommen sollen. Einen Tag vorher hat Österreich die Grenzen geschlossen und dein Transport wurde verschoben. Mitte April ein neuer Termin. Verschoben.

Am 5. Mai 2020 habe ich ein zusammen gekauertes, wuschliges Lebewesen in Empfang genommen. Denke ich an den ersten Tag zurück – ein Alptraum und all meine Vorstellungen von unserer gemeinsamen Zeit fielen zusammen, wie ein Kartenhaus. Das braucht Zeit – viel Zeit. 2 Monate Corona, die uns in deiner wichtigsten Prägungszeit genommen wurden.

Gassi gehen wurde zum Alptraum. Kaum vor der Haustüre angekommen, stieg deine Angst. Ich weiss nicht, wieviele Meter ich dich getragen habe, um dich von dieser Hürde weg zu bringen. Jeder Ort, jede Bewegung, jedes Geräusch, alles war für dich gefährlich. Daran hat sich kaum etwas geändert. Du hast dir vom ersten Moment an eine sichere Ecke in meiner Wohnung ausgesucht, von der aus du alles beobachten und jede weitere Nacht friedlich schlafen konntest.

Sehr schnell habe ich mir Hilfe von einem Hundetrainer geholt und mit einer Schleppleine angefangen zu trainieren, um zum einen unsere Bindung zu stärken und zum anderen, deinem Bewegungsdrang an einem ruhigen Ort eine Chance zu geben. Das hat hervorragend geklappt und ich durfte sehen, wieviel Freude und Spass du dabei hast und sich deine Angst auflöst.

Am zweiten Tag hast du angefangen zu fressen und am dritten Tag zaghaft deinen Spieltrieb entdeckt. Nach und nach hast du dich in meiner Wohnung wohlgefühlt.  Noch nie zuvor durfte ich einen Hund erleben, der auf so leisen Pfoten um die Ecke kommt, um zu schauen, ob ich noch da bin.

Täglich wurdest du zutraulicher und hast deine Schmuseeinheiten abgeholt. Niemals habe ich dich bedrängt, dich viel schlafen und ruhen lassen. Du hast dich an die Kirchenglocken, an laute Geräusche und an den Staubsauger gewöhnen müssen. Letzteren wolltest du mit heftigen Bellen in die Flucht schlagen. Erfolglos.

Auto fahren. Einmal hat es funktioniert und dann wurde auch das zu einer schier unüberwindbaren Hürde, wie das Gassi gehen bzw. die Welt vor der Haustüre, die dir so viel Angst gemacht hat. Ich wusste nicht, dass ein junger Hund sich solange zurückhalten kann.

Es gab so unendlich viele schöne Momente und ebenso viele ausgesprochen schwierige. Je stärker unsere Bindung wurde, desto stärker hast du mich und dein Territorium beschützt. Es lag an mir, dir deine Grenzen zu setzen. Deine Neugierde liess ich frei gewähren und durfte Teile meines Haushaltes, Hausschuhe und Socken – inzwischen mit Löchern – einsammeln. Alles soweit gut.

An einem Dienstag habe ich dich in Empfang genommen und an einem Dienstag lief wohl alles schief, was schief laufen konnte. Aus deiner Angst heraus ist so viel passiert und wir beide waren masslos überfordert. Ich war so hilflos, wie noch nie zuvor in meinem Leben und ich habe Hilfe bekommen. Ich musste eine Entscheidung treffen, für dich und sie hat mir in diesem Moment das Herz zerrissen.

Du bist an einem wunderschönen Ort nicht weit von mir entfernt. Du darfst in einem Rudel laufen und von deinen erfahrenen, souveränen Artgenossen lernen. Liebevolle, erfahrene Hände achten auf dich und du hast dort alle Zeit der Welt.

Fortsetzung folgt…..

 

 

Über Erika

Mein Nachname ist Programm in meinem Leben. Immer in Bewegung, selten still, oft schweigend, mit offenen Augen das Leben und die Welt beobachten. Mit den Gedanken einen Schritt voraus und den Gefühlen einen Schritt hinterher. Immer öfter bewusst im Moment, häufig auf Reisen irgendwo zwischen Himmel und Erde, mit festen Boden unter den Füssen. Liebe die Berge und das Meer, brauche Bäume zum auftanken und das Meer zum loslassen. Was ich dabei erlebe, entdecke und beobachte - darüber schreibe ich.
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29 Antworten zu Chronologie eines Corona-Hundes

  1. wholelottarosie schreibt:

    Ohhh..
    Ich weiß, es ist so schwer, bei unüberwindlichen Schwierigkeiten die richtigen Entscheidungen zu treffen.
    Sonnige Grüße von Rosie

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    • Erika schreibt:

      Danke liebe Rosie. Herzliche Grüsse auch zu dir

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      • wholelottarosie schreibt:

        Meine Schwester hat vor ca. 2 Jahren einen Hund aus dem Tierschutz, der ihn aus einem Zuchtstall gerettet hat, bei sich aufgenommen. Elli ist ein wunderbarer Hund, lieb, folgsam, zutraulich. Meine Schwester muss aber immer in seinem Blickfeld sein – sogar, wenn sie ins Bad geht, legt er sich vor die Tür und wartet brav. Anfangs war er sehr, sehr ängstlich, aber das hat sich zum Glück gegeben.

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      • Erika schreibt:

        Liebe Rosie, die Hoffnung stirbt zuletzt. Danke dir für diese schöne Geschichte. Es findet immer zusammen, was zusammen gehört. Schau ma mal……

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  2. Heidrun Regina schreibt:

    Sehr berührend………………
    ……….ich hoffe, ihr findet wieder heilsam zusammen
    ……….zur richtigen Zeit.

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  3. cablee schreibt:

    Ich frage mich, was in den ersten vier Monaten geschehen ist, dass der Hund so von Angst beherrscht wird. Schade, ich hätte dir einen Kameraden an deiner Seite gewünscht, der mit dir durch dick ung dünn geht.
    Alles Gute für dich, Erika

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  4. Random Randomsen schreibt:

    Das ist ausgesprochen bitter und belastend, wenn sich die Startschwierigkeiten derart kumulieren, dass ein Umweg erforderlich wird, der noch mehr Zeit und Geduld fordert. Allerdings ist es im Leben ja auch immer wieder so, dass aus widerstandsreichen Startbedingungen die intensivsten Bedingungen erwachsen. In diesem Sinne wünsche ich euch beiden viel Glück, Geduld und Liebe, damit letzten Endes zusammenwachsen kann, was zusammen gehört. 🌟🌺🌟
    Mit einem herzlichen Sonntagsgruß 🐻

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  5. Labby schreibt:

    Erika alles wird gut ! Bei einem erst 4 Monate alten Hund ist das alles kein Problem und euch beiden bleibt noch viel schöne gemeinsame Zeit. Lass den Kontakt nicht abreißen und besuche ihn regelmäßig, du wirst sehen wie Freude und Zuneigung immer mehr steigen. Wir hatten in unserer Familie fast immer einen Hund (auch jetzt) und der bringt viel Freude. Ich freue mich schon auf deine Fortsetzung. Liebe Grüße Wolfgang

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    • Erika schreibt:

      Lieber Wolfgang danke vielmals für deine Mut machenden Worte. Sie ist inzwischen 6 Monate und dein Gedanke ist auch der meine. So schnell gebe ich nicht auf und wir haben die Chance bekommen und werden sie nutzen. Liebe Grüsse

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  6. Arno von Rosen schreibt:

    Mir kommen fast die Tränen, wenn ich lese wie viele Hindernisse ihr zu bewältigen habt, liebe Erika. Hoffentlich kannst du deinen Schatz bald für immer in die Arme schließen und ihr macht gemeinsam die Gegend unsicher! Lass die Zeit, bis ihr wieder gemeinsam lebt, nicht zu lange werden und grüß deine kleine Herzensfee von uns ❤

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  7. twinsie schreibt:

    ich bin davon überzeugt, dass ihr wieder zusammenfindet…..alles braucht seine Zeit!

    Ganz liebe Grüße
    Eva

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  8. Random Randomsen schreibt:

    Irgendwie denke ich in diesem Zusammenhang auch an ihren kraftvollen Namen: Dschember. So ein Name findet ja auf geheimnisvollen Pfaden zu uns. Man denkt darüber nach. Man spürt nach. Und irgendwann kommt die Gewissheit: das ist es, so stimmt es. So ist es Sinn voll…
    Ein ganz besonderer Baum steht hier also Pate. Und das ist kein Gewächs, das bei der ersten Frühlingssonne in die Höhe schießt, aber vom ersten Sturm auch gleich wieder weggefegt wird. Die Zirbe oder Arve wächst in ihrem eigenen Zeitmaß. Langsam nimmt sie ihren Platz im Leben ein – den bewahrt sie dann aber auch mit unglaublicher Widerstandskraft. Das sind so die Bilder, die ich hier grad sehe…
    Mit einem herzlichen Abendgruß 🐻

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    • Erika schreibt:

      Lieber weiser 🐻so schön, danke dir. Du erinnerst mich daran, weshalb ich ihr diesen Namen gegeben habe. Erst vor ein paar Tagen sass ich unter einer Arve und es regnete. Unter ihr blieben wir trocken – sie war schon sehr alt, mächtig und ihr Geäst stand breit und dicht inmitten des Albulatales. Ich fühlte mich sehr wohl unter ihr. Dschember und ich werden gemeinsam wachsen….ganz lieber Gruss Erika

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  9. Struppi-2009 schreibt:

    Ich wünsche Dir, daß ihr zwei euch wieder findet. Ich kenne einen ähnlichen Fall und der Hund ist zusehens ruhig geworden und genießt die wunderbare Pflege der Tierhalter. So wird es Dir auch ergehen. Allerdings muß man sehr viel Geduld aufbringen.
    Alles Gute und liebe Grüße
    Traudl

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  10. alltagschrott.ch schreibt:

    Liebe Erika, deine Zeilen berühren zutiefst. Was muss der arme Kerl schon erlebt haben, um diesen Rucksack zu tragen. Es tut mir leid für euch beide und hoffe ganz fest, dass es für euch noch eine Chance gibt.

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    • Erika schreibt:

      Danke dir für dein Mitgefühl und lieben Worte. Ja, so jung und schon viel erlebt. Wir nutzen die 2. Chance und die Zeit wird es zeigen. Liebe Grüsse und schönes Wochenende Erika

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  11. Ruhrköpfe schreibt:

    Hallo liebe Erika, puh, das geht mir auch unter die Haut. Doch, wer weiß: Vielleicht brauchte sie genau diese Zeit und diesen Ort mit dir, um sich gut weiter entwickeln und die ersten mutigen Schritte Richtung Vertrauen gehen zu können. Fühl dich bitte fest gedrückt, wenn du magst, liebe Grüße, Annette

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