Blut zapfen

„Ich hol gschwind Hilfe. Ich krieg nicht genug Blut“ sagte sie und läuft ins Nebenzimmer zu ihrer Kollegin. Die routiniertere, ältere Medizinische Assistentin hatte gemessen an der Zeit wohl auch Mühe, aber sie bekam genug Blut. Und ich höre die Stimme eines alten Mannes, der sagte: „Sie haben das Super gemacht“.

Neben mir sitzt seine Frau. Sie erzählt mir, ihr Mann habe Demenz. Er wüsste am Abend nicht mehr, wo er am Tag war. Ja, es sei manchmal schwierig, aber sie hätte Hilfe von der Spitex und ihr Sohn käme auch und würde ihr helfen. „Wissen Sie, wir sind beide über 80. Früher ist man halt einfach gestorben! Er war erst 3 Wochen im Spital und dann nochmal für 3 Tage zur Kontrolle. Und mir wirds immer schwindlig. Ach, alt werden. Man weiss nie, was man noch bekommt“

„Zum Glück, weiss man es nicht“ antwortete ich und sagte ihr auch, dass bei diesem Wetter und den wechselnden Temperaturen jedem schwindlig wird. Sie erzählt mir, dass sie umgezogen sind. In eine schöne Wohnung mit Lift und Geschäften in der Nähe. Denn ein Auto hätte sie keines mehr. Musste es abgeben. Ich sehe ihr an, dass das ein schwerwiegender Eingriff in ihrer Unabhängigkeit war. Jetzt könnten sie zu den Geschäften laufen, und ihr Mann muss laufen. „Er läuft nicht gerne?“ frage ich sie. Daraufhin verzieht sie das Gesicht. Er glaubt, wenn sie dabei sei, dann läuft er besser. Sie sei immer sportlich gewesen, viel Gymnastik hätte sie gemacht und war viel laufen. Das käme ihr heute zu Gute. Da stimme ich ihr zu.

Neben mir sitzt eine über 80jährige Frau, die schwankt zwischen der Last des Alters und der Gebrechlichkeit ihres Mannes und ihrer eigenen verbliebenen Vitalität, die sie vielleicht gerne freier leben würde. Ich fragte: „Sie sind sicher schon lange verheiratet?“ „Ja, nächstes Jahr sind es 60 Jahre. Alleine gehts einem besser!“ Darauf antwortete ich ihr: „Nein, nicht wirklich. Alleine ist manchmal einfacher! Sie haben sovieles miteinander erleben dürfen. Gute und schlechte Zeiten hinter sich gebracht. 60 Jahre verheiratet, das schafft heute kaum mehr jemand. Und ich sowieso in diesem Leben nicht mehr“

Und dann kommt ihr Mann. Er muss einmal ein kräftiger und grosser Mann gewesen sein. Leicht vorne übergebeugt und mit unsicherem Gang in einer Trainingshose und mit Pulli, steht er kalkweiss mit tiefliegenden Augen vor mir. Suchender Blick und unglaublich liebevolle Augen. Seine Frau nimmt ihn am Arm und führt ihn zum Stuhl. Er muss noch seine Schuhe anziehen. „Ich kann dir die Schuhe nicht so gut anziehen. Da wirds mir schwindlig, wenn ich mit dem Kopf nach unten gehe.“ Ich gehe zu dem Mann und ziehe ihm seine Schuhe an, beide bedanken sich herzlich. „Immer den Kopf oben behalten“. Der alte Mann lächelt mich an und sagt: „Ja, den Kopf oben behalten“ und schaut mich dabei klar und neugierig an.

Er reicht mir die Hand und verabschiedet sich, seine Frau dankt nochmals und beide gehen den Gang entlang. Zwei Menschen, die auch den kleinen Rest ihres gemeinsamen Wegen zusammen gehen.

Und mir laufen die Tränen runter. So sehr hat dieser alte Mann mein Herz in diesem kurzen Moment berührt.

Und dann bin ich dran….

Geniesst jeden Moment des Lebens in seiner Einzigartigkeit!

Schönes Wochenende

Erika

 

Über Erika

Mein Nachname ist Programm in meinem Leben. Immer in Bewegung, selten still, oft schweigend, mit offenen Augen das Leben und die Welt beobachten. Mit den Gedanken einen Schritt voraus und den Gefühlen einen Schritt hinterher. Immer öfter bewusst im Moment, häufig auf Reisen irgendwo zwischen Himmel und Erde, mit festen Boden unter den Füssen. Liebe die Berge und das Meer, brauche Bäume zum auftanken und das Meer zum loslassen. Was ich dabei erlebe, entdecke und beobachte - darüber schreibe ich.
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